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Aktuelles

 

Türkisches Deutschland in Schwarz-und-Weiß:

Fotografie und Ausarbeitung von Identitäten Ende des
20. Jahrhunderts in ethnischen Minderheiten

Zusammenfassung der Master-Abschlussarbeit1



Die hier dargestellte Master-Abschlussarbeit widmet sich der Analyse des während der letzten Jahrzehnte vollzogenen Migrationsprozesses von Türken2 nach Deutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg übte Europa auf viele Migranten eine große Anziehung aus. Innerhalb dieser Migranten erscheint die hier behandelte Gruppe als eine der bedeutendsten für das Verständnis des weltweiten Wanderungsphänomens dieser Zeit - ich beziehe mich nur auf Arbeitsmigranten. Als eine der Folgen dieses Phänomens entstanden Diskussionen zur Ethnizität, Identität und zur ethnischen Zugehörigkeit der Migranten. Mit einer Fallstudie der türkischen Gemeinde in Deutschland möchte ich zu der oben beschriebenen Debatte beitragen.

Es handelt sich hier um eine wichtige und aktuelle Debatte in Deutschland, sei es auf dem Feld der Literatur, wo in jüngster Zeit mehrere biografische Bücher dazu erschienen3, sei es im sozialwissenschaftlichen Rahmen, wo schon seit über zehn Jahren Arbeiten darüber produziert werden4, oder auch in der Kunst, wie beispielsweise der Filmszene, wo es in den letzten Jahren einige bedeutende Filme zu dem Thema gab5. Mein Beitrag steuert einen neuen Blickwinkel zu der Debatte bei. Neu deshalb, weil er von außen kommt. Er ist weder Deutsch noch Türkisch. Eine weitere Neuheit dieser Forschung ist die Behandlung des Themas anhand von Einwandererfotografien, die während der zwei letzten Dekaden aufgenommen wurden.

Um die Fotografie als Geschichtsquelle zu verwenden, muss man sie als Puzzelteile6 vergangener Lebenszusammenhänge7 verstehen, die Teile der Erinnerung8 desjenigen beinhalten, der die Fotos aufgenommen hat. Mit dieser Art von Material zu arbeiten erfordert eine Änderung der Denkweise, was die Geschichtsquellen angeht. Wir müssen die traditionelle Idee, dass nur von Machtinstitutionen produzierte Dokumente Quellen sind, aufgeben. Denn, so Carlo Ginzburg, alle Dokumente, falls sie passend analysiert werden, können dem Geschichtsforscher hilfreich sein9. Die Verwendung neuer Quellentypen verbindet sich direkt mit einem Perspektivwechsel vieler Historiker, die den traditionellen Blick, mit dem man bisher die Geschichte betrachtet hat, für veraltet halten10. Diese Perspektive entfernt den Staat aus dem Mittelpunkt der Analyse. Sie fokussiert vielmehr auf die sozialen Akteure und schlägt einen historischen Aufbau von unten nach oben vor. Sie versteht die sozialen Akteure als vielfältige und differenzierte Wesen. Um den neuen, von diesen Historikern vorgeschlagenen Blickwinkel zu praktizieren, werden neue Geschichtsquellen verwendet. Fotografie, Literatur, mündliche Erzählungen sind Beispiele von Dokumenten, die uns ermöglichen, bisher der Geschichtswissenschaft unbekannte Dimensionen zu betrachten. Dies jedoch erfordert Klarheit über die Anwendungs- bzw. Analysemethode.

Als roten Faden dieser Forschung habe ich das Werk von Kemal Kurt gewählt. Kurt war ein Türke, der zwischen Ende der 70er und der 90er als selbstständiger Fotograf und Schriftsteller in Deutschland lebte. Er widmete sich der Aufnahme alltäglicher Szenen dieser Imigrantengemeinschaft. Bei seinem Tod hinterließ er eine umfangreiche Fotosammlung, die seine Töchter und seine Witwe mit Unterstützung des Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V. (DOMiT) organisiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben, sowie die Wanderausstellung menschen.orte. Seine Fotos heben hauptsächlich kulturelle bzw. soziale Elemente des Alltags der türkischen Gemeinde in Deutschland hervor, wodurch alltägliche Kontraste und eigenartige Konstellationen ins Blickfeld gerückt werden. Es scheint mir, dass der Versuch, die spezifische Situation der türkischen Minderheit in Deutschland anhand von Kurts Werk zu problematisieren, auch noch ermöglicht, sich mit der Frage des Zugehörigkeits- bzw. Nicht-Zugehörigkeitsgefühls dieser Individuen in der dortigen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Ich halte also die Erweiterung der historischen Kenntnisse über die von dieser Gruppe in Deutschland gebildete ethnische Minderheit mithilfe einer Analyse der Fotos von Kemal Kurt für möglich.

In diesem Sinn verstehe ich die Fotografie "als eine Nachricht, die sich während der Zeit entwickelt"11 und stelle mich der Herausforderung, "hinter das Bild zu sehen"12. Es ist daher notwendig, nachzuvollziehen, wer Kemal Kurt gewesen ist, um das soziale Umfeld13 seiner Fotos zu entdecken. Henri Cartier-Bresson zufolge "kommuniziert sich das Bild nicht ganz von allein"14, weshalb es wichtig ist, die Biografie des Bildes15 zu rekonstruieren. Die Bildanalyse sucht nicht das Verständnis der Bilder allein, sondern des Sozialraumes, in dem diese eingebettet sind. Die Bilder stellen mithin das Hauptwerkzeug, anhand dessen ich mein Studienobjekt, die sich verändernde Gesellschaft, betrachten möchte.

Außerdem darf nicht vergessen werden, dass die Fotografie auch eine Tat ist, die konkrete soziale Beziehungen auslöst. Das Ansehen bringt immer eine neue Darstellung und eine neue Vorstellung des Gesehenen mit sich, die mit jedem einzelnen sozialen Akteur verbunden sind. Die Tat des Sehens bedeutet also eine soziale und historische Erfahrung. Außer Wirklichkeit ist die Fotografie auch eine Darstellung bzw. Vorstellung der Realität, gemäß dem Blickwinkel des Vermittlers, nämlich des Fotografen. Deshalb müssen wir sie kritisch betrachten, sie hinterfragen und sie mit anderen Quellen verbinden. Das scheint mir der einzige Weg zu sein, um sie vollständig zu verstehen, d.h. um über ihre Zweidimensionalität hinaussehen zu können. Nur so wird es möglich, ihre Symbole und Codes zu interpretieren sowie ihre zauberhafte Seite16 aufzudecken und die Ereignisse ihrer Szenen zu übersetzen17.

Für den hier beschriebenen Weg habe ich mich entschieden, die Ursachen, die Anzeichen und die Folgen einer Identitätskrise18 festzustellen, die ich während der letzten Jahrzehnte innerhalb der in Deutschland ansässigen türkischen Gemeinde entstehen gesehen habe.


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Fussnoten

1 Die hier zusammengefasste Forschung wird von März 2005 bis Februar 2007 im Geschichtsinstitut der Universidade Federal Fluminense (Niterói, Brasilien) von Paula Gioia entwickelt.
2 Aufgrund fehlender Daten bezüglich der genaueren Herkunft dieser Individuen werden in dieser Arbeit alle aus der Türkei in Deutschland angekommenen Imigranten sowie ihre Kinder, als "Türke" benannt. Trotzdem muss hier erwähnt werden, dass sie innerhalb der Türkei aus ca. 47 verschiedenen Ethnien und Konfessionen stammen. Cf. SEN, Faruk. "Türkische Minderheit in Deutschland", Informationen zur politischen Bildung: Türkei, Oberschleißheim, Heft 277, 4. Quartal 2002, S.55.
3 Z.B. ATES, Seyran. Große Reise ins Feuer: Die Geschichte einer deutschen Türkin. Berlin: Rowohlt, 2003.; ÖZDAMAR, Emine Sevgi. Die Brücke vom Goldenen Horn. Köln: KiWi, 2002.; Y., Inci. Erstickt an euren Lügen: eine Türkin in Deutschland erzählt. München: Piper, 2005.; u.a..
4 Z.B. BADE, Klaus J.. Europa in Bewegung: Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München: Beck, 2002.; MOTTE, Jan et alli (Hrg.). 50 Jahre Bundesrepublik - 50 Jahre Einwanderung: Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte. Frankfurt/Main; New York: Campus Verlag, 1999.; MÜNZ, Rainer et alli. Zuwanderung nach Deutschland: Strukturen, Wirkungen, Perspektiven. Frankfurt/Main; New York: Campus Verlag, 1999.; u.a..
5 Der aus der Türkei abstammende Nachwuchs-Regisseur Fatih Akin produziert beispielsweise seit 1998 mehrere erfolgreiche Filme über dem Thema: Kurz und schmerzlos (1998), Wir haben vergessen zurückzukehren (2002), Gegen die Wand (2004) - der sogar den Goldenen Bär bei der Berlinale gewonnen hat - u.a. Es wurden aber schon seit den 70er Jahren von Regisseuren und Regisseurinnen deutscher Herkunft einzelne Filme zu dem Thema gedreht. In den 90er Jahren übernahm die Generation der in Deutschland geborenen Einwandererkinder zunehmend selbst die Regie dieser Motive.
6 Der Begriff, im Original "resíduo de ação", stammt von Verena Alberti.
7 Cf. ALBERTI, Verena. Ouvir e contar. Rio de janeiro: FGV, 2004, S.33.
8 Der Begriff Erinnerung stammt von Pierre Nora und ist in der Literatur umfangreich kommentiert. Hier bedeutet er, dass die Fotos sowohl bewusste als auch unbewusste Entscheidungprozesse repräsentieren und eine Aussage darüber zulassen, was derjenige zum Zeitpunkt der Aufnahme als wichtig und/oder bedeutend erachtete.
9 Cf. GINZBURG, Carlo. "Microhistoria: dos o três cosas que sé de ella" in: Entrepassados - Revista de Historia, Jahr V, Nr. 8, 1995, S. 59.
10 Cf. COSTA, Emilia Viotti da. "Novos públicos, novas políticas, novas histórias: do reducionismo econômico ao reducionismo cultural: em busca da dialética" in: Anos 90, Porto Alegre, Nr.10, Dez/1998, S. 20.
11 Cf. MAUAD, Ana Maria. "Fotografia e História, interfaces". Tempo, Rio de Janeiro, 1 Band, Nr.2, 1996, augesdruckte Version, S.1.
12 Idem, S.5.
13 Im Original lautet der Begriff "circuito social". Cf. FABRIS, Annatereza. apud Idem, S.8.
14 Cf. CARTIER-BRESSON, Henri. apud LEITE, Miriam Moreira. Retratos de Família: Leitura da fotografia Histórica. São Paulo: Edusp, 2001, S.30.
15 Cf. MENESES, Ulpiano T. B. de. "A fotografia como documento - Robert Capa e o miliciano abatido na Espanha", Tempo, Rio de Janeiro, 7 Band, Nr.14, 2003, S.148. 16 Der Begriff stammt ursprünglich von Vilém Flusser und auf Portugiesisch lautet er "caráter mágico".
17 Cf. FLUSSER, Vilém. Filosofia da Caixa Preta: ensaios para uma futura filosofia da fotografia. Rio de Janeiro: Relume Dumará, 2002. S. 8.
18 Cf. HALL, Stuart. A identidade cultural na pós-modernidade. Rio de Janeiro: DP&A, 2005, S. 12.


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